Auswirkungen der Neuregelung der Organspende vom 16.1.2020

Vor einem Jahr hat der Bundestag nach einer sehr lebhaften Debatte die Einführung der Widerspruchsregelung (WSR) im Transplantationswesen abgelehnt.

 

Wir blicken zurück und nach vorn.

Was bedeutet diese Abstimmung für die ca. 9.200 Patienten die auf ein Organ warten?

 

Seit vielen Jahren stagniert die Zahl der Organspender in Deutschland bei ca. 850 bis 950 pro Jahr. Aktuell warten ca. 9.200 Patienten auf ein Herz, eine Leber, eine Niere oder Lungen. Auf eine Niere wartet ein Dialysepatient ca. neun Jahre. Statistisch sterben jeden Tag drei Patienten, weil es zu wenige Organspenden gibt. 

 

Rückblick

Am 2.9.2018 kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Eröffnung einer gesellschaftlichen und politischen Debatte zur möglichen Einführung der WSR im Transplantationswesen in Deutschland an. Bei der WSR gilt jede volljährige und geistig nicht behinderte Person in Deutschland für den Fall der Feststellung ihres irreversiblen Hirntodes als potenzieller Organspender, außer diese Person hat zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen (oder ihre Angehörigen nach der Hirntodfeststellung). Die WSR würde zu mehr Organspendern führen, dies beweist diese Regelung in allen Ländern Europas, sie gilt überall, nur in Deutschland, Dänemark, Rumänien, Litauen  und Griechenland  gilt sie nicht. In keinem anderen großen Land Europas sterben so viele Menschen wie in Deutschland auf der Organwarteliste, auch bei der Kennzahl „Organspender pro 1 Million Bürger“ liegt Deutschland am Tabellenende.

Diese Debatte fand dann auch ca. 15 Monate lang in allen Medien statt. Politiker aller Parteien, Theologen, Juristen, medizinische Verbände, Journalisten, auf ein Organ Wartende und transplantierte Patienten, Vertreter der beiden christlichen Kirchen, SchauspielerInnen und natürlich „normale“ Bürger haben sich an dieser Debatte beteiligt. Die Gegner einer WSR, auch die im Bundestag, haben sich wahrlich nicht immer durch große Sachkenntnis ausgezeichnet, manchmal hatte man den Eindruck, dass mit allen (un)erlaubten Mitteln die Öffentlichkeit und auch andere Bundestagsabgeordnete manipuliert werden sollten.

 

Die Abstimmung

Am 16.1.2020 standen dann drei Anträge (Gesetze) auf der Tagesordnung des Bundestages zur Abstimmung:

1) Pro WSR (Jens Spahn, CDU, Karl Lauterbach (SPD)

2) Die sog. Erweiterte Zustimmungslösung, (A. Baerbock, Grüne, und S. Pilsinger, CSU; Erläuterung folgt unten.

3) Ein AfD-Antrag, der nicht erläutert werden muss.

 

Nach gut zwei Stunden Bundestagsdebatte wurde, wie bei ethischen Themen üblich, ohne Fraktionsdisziplin abgestimmt. In solchen Fällen wird zuerst über den Gesetzesvorschlag abgestimmt, der die größten Veränderungen bringen würde, also über die WSR. 

292 Abgeordnete stimmten für die WSR, 379 stimmten dagegen bei drei Enthaltungen; die Differenz von 87 bedeutet, dass letztendlich nur 44 Ja-Stimmen gefehlt haben, um die WSR einzuführen. 

Es lohnt ein Blick auf das Ablehnungsverhalten der Parlamentarier bzw. ihre Parteizugehörigkeit:

95,4 % der AfD-Abgeordneten,

89,6 % der Grünen-Abgeordneten,

78,7 % der FDP-Abgeordneten,

61,3 % der Linken-Abgeordneten,

37,6 % der Unionsabgeordneten, 

33,8 % der SPD-Abgeordneten.

 

Diese Ablehnungsquoten sind aus drei Gründen interessant: Das ZDF-Politbarometer vom 17.1.2020 sagte aus, dass 72% der Grünen-Wähler, 73% der FDP-Wähler und 59% der Linken-Wähler die WSR befürworteten.

 

Natürlich müssen Abgeordnete nicht so abstimmen, wie es die Wähler ihrer Parteien wünschen, gleichzeitig drängte und drängt sich der Eindruck auf, dass vor allem die Grünen-Abgeordneten ihrer „Chefin“ Baerbock folgten. Mit Frau Baerbock hatte ich als Teilnehmer einer Gruppe der Change-Org-Petition „Leben retten: Einführung der WSR“ im Oktober 2019 ein Gespräch, das mich zu dieser Einschätzung brachte und bringt.

 

Betrachten wir die weiteren Abstimmungen des Bundestages:  

Nun wurde über den zweiten Gesetzesentwurf (erweiterte Zustimmungslösung) mit folgendem Ergebnis abgestimmt:

 

382 Abgeordnete stimmten dafür und 261 dagegen bei 28 Enthaltungen.

Hierbei fällt auf, dass 19 Abgeordnete der AfD-Fraktion ebenfalls zustimmten, obwohl sie einen eigenen Vorschlag auf der Agenda hatte. Durch diese Mehrheit (und die anschließende sog. dritte Lesung) kam dieser allerdings nicht mehr zur Abstimmung. 

 

Was bringt diese Abstimmungsergebnis für die Menschen auf der Organwarteliste?

Im Wesentlichen bringt das Ergebnis kurz- und mittelfristig nichts, langfristig sehr wahrscheinlich auch nichts, der Berg gebar eine Maus. Im Kern wurde die Beibehaltung der bisher gültigen Zustimmungsregelung beschlossen, d.h., dass eine Organentnahme grundsätzlich nur erlaubt ist, wenn der mögliche Organspender, also nach Feststellung seines irreversiblen Hirntodes, zu Lebzeiten einer Organspende zugestimmt hat (oder sein nächster Angehöriger).

 

Zusätzlich beinhaltet die verabschiedete Zustimmungsregelung Folgendes:

 

1. Registrierung des Willens zur Organspende in einem Online-Register, das zum 1.3.2022 zur Verfügung stehen soll,

2. Die Ausweisstellen von Bund und Ländern müssen den Bürgern zukünftig (also ab dem 1.3.2022) Aufklärungsmaterial und Organspendeausweise aushändigen bzw. bei elektronischer Antragstellung elektronisch übermitteln. Dabei müssen sie auf weitere Informations- und Beratungsmöglichkeiten sowie auf die Möglichkeit, sich vor Ort, also im Büro des Amtes, oder später in das Online-Register einzutragen, hinweisen,

3. Hausärzte können künftig, also ab dem 1.3.2022, bei Bedarf ihre Patienten alle zwei Jahre, über die Organ– und Gewebespende ergebnisoffen beraten. Das Gesetz sieht auch vor, die Organ- und Gewebespende verstärkt in der ärztlichen Ausbildung zu verankern,

4. Grundwissen zur Organspende soll zudem in den Erste-Hilfe-Kursen im Vorfeld des Erwerbs des Führerscheins vermittelt werden. 

 

Das beschlossene Gesetz bringt formal also bis zum 1.3.2022 nichts für die Menschen auf der Organwarteliste. Informell bringt sie vielleicht ein bisschen, weil durch die politische und gesellschaftliche Diskussion bis zum 16. Januar 2020 mehr Menschen einen Organspendeausweis ausfüllten. Es werden bis zum 1.3.2022 nach wie vor ca. 7.000 Dialysepatienten im Durchschnitt acht Jahre auf eine Niere warten.

Manche dieser Patienten werden im Laufe der Wartezeit so krank/ multimorbide, dass sie nicht mehr transplantabel sind. Patienten, die auf ein Herz, eine Leber oder eine Lunge warten, werden das Organ rechtzeitig erhalten – oder sterben.

 

Zwei Jahre Vorbereitung für die genannten vier Punkte ist eine lange Zeit, Zeit, in der Tausende Menschen sterben werden. Dieser Zeitplan wurde noch vor Beginn der Pandemie in Deutschland beschlossen; ob es so kommen wird, darf bezweifelt werdne.

 

Nachteile des zukünftigen Gesetzes

Zu 1: Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die Organisation, der Aufbau und der Beginn des Betriebs gut zwei Jahre benötigen. Technisch gesehen ist ein solches Register eine kleine Datenbank, die einerseits den schreibenden/ pflegenden/ löschenden Zugriff eines Bürgers (oder eines Bevollmächtigten) auf nur seine Aussagen zur Organspende per PC, Laptop, Tablet, Handy-App, Telefon oder Brief erlauben darf und andererseits berechtigten Dritten (Kliniken) den lesenden Zugriff erlaubt. Ich habe gut 30 Jahre für Europas größten Softwarehersteller gearbeitet, ich traue mir eine Beurteilung zu: Ich schätze den o.g. Aufwand auf max. sechs Monate (wenn man es wirklich will).

 

Zu 2: Die Ausweisstellen von Bund und Ländern sind für deutsche Ausweise zuständig. Es wird also ab dem 1.3.2022 zehn Jahre dauern, bis dann alle Deutschen dieses Informationsmaterial erhalten haben werden, denn die Ausweise gelten 10 Jahre. Die Bürgerin, die im Februar 2022 einen (neuen) Ausweis beantragt, wird also erst im Februar 2032 dieses Aufklärungsmaterial über Organspende erhalten.

 

Dieses Vorgehen bedeutet aber auch, dass die genannten Behörden grundsätzlich keine Ausländer erreichen. 6,5 Millionen Nicht-EU-Ausländer sollen von den Ausländerbehörden informiert werden, wenn diese ihre Aufenthaltsgenehmigung beantragen/ erhalten. Nicht-EU-Ausländer, die eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung haben, erreicht man so nicht, eventuell (je nach Organisation in den Kommunen) erreicht man sie, wenn sie umziehen und sich bei den Meldebehörden ummelden. Wenn sie nicht umziehen, erreicht man sie nicht.

 

Kommen wir zu den 4,7 Millionen EU-Ausländern: Diese benötigen aufgrund der EU-Freizügigkeitsregelung in der Regel keine Aufenthaltsgenehmigung, haben also demzufolge gar keinen Zugang zu diesen Behörden. Auch hier gilt: Je nach Organisation in den Kommunen erreicht man sie nur dann, wenn sie umziehen und sich bei den Meldebehörden ummelden. 

 

OK, bleiben also die meisten, die deutschen Staatsbürger übrig, diese können sich nun also in dem (lästigen) Moment, in dem sie einen Ausweis beantragen oder abholen, informieren lassen und sogar an einem Bildschirm ihren Eintrag in das nationale Organspenderegister vornehmen. Eine solche persönlich-intime Eingabe wird wohl nicht auf dem Flur erfolgen, eher im Arbeitsraum der Beamtin, die Bearbeitungszeit verlängert sich entsprechend.

 

Zu 3) Alle Hausärzte müssen erst einmal aus- und fortgebildet werden, damit sie überhaupt Patienten zum Thema Organspende beraten können.Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie viele Patienten sich dazu beraten lassen wollen, denn der Anlass eines Arztbesuches ist fast immer eine Beschwerde, eine Krankheit, die einer ärztlichen Begutachtung und ggfls. Behandlung bedarf.

 

Zu 4) Na ja, Organisationen der Erste-Hilfe-Ausbildung werden nach Anmeldung Flyer zum Thema Organspende austeilen und das war es dann. Sicherlich nicht schädlich, sicherlich aber auch kaum nützlich.

 

Fazit

Alles in Allem ist diese Gesetzesänderung weder zielführend noch besonders intelligent, sie schiebt eine Lösung in ferne Zukunft und ist deshalb eher nur blinder Aktionismus. Die Menschen die auf ein Organ warten und ihre Angehörigen empfinden dies als ein Versagen auf breiter Front. Dieses Gesetz wird so gut wie nichts bringen, keine Erhöhung der Zahl der Organspender, das Leid und das Sterben auf der Warteliste werden weitergehen. Alle werden mindestens drei oder vier Jahre verlieren, bis das Thema WSR wieder auf die politische und gesellschaftliche Tagesordnung kommen wird. Es wird Tausende Tote kosten!

 

So bleibt es dabei, dass es in Europa nur in Deutschland, Dänemark, Rumänien, Litauen und in Griechenland keine WSR gibt.  In allen sieben Partnerländern Deutschlands des Eurotransplant-Verbundes gilt die WSR. Deutschland profitiert von diesen Regelungen in Österreich, BeNeLux, Kroatien, Slowenien und Ungarn, indem Deutschland aus diesen Ländern relativ viel mehr „Spenderorgane importiert“ als dorthin „exportiert“.

 

Wenn es auf dem Gebiet der Krebsbehandlung oder auf dem Gebiet der Neugeborenenversorgung so viele zu verhindernde Tote gäbe wie auf dem Gebiet der Organtransplantation, sprächen die Medien zu Recht von Skandalen. Menschen auf der Organwarteliste sind leider zu schwach, um auf sich aufmerksam zu machen.